
Wie lerne ich ‚Nein‘ zu sagen?
Für die meisten Menschen ist es erstrebenswert, hilfsbereit zu sein. An sich ist das eine gute Eigenschaft, denn es sorgt für Lob oder Anerkennung. Doch wer glaubt, dass er sich um alles kümmern muss, überfordert sich früher oder später.
In diesem Beitrag geht es darum, zu lernen, auch ohne schlechtes Gewissen „Nein“ zu sagen. Es gibt viele Tipps und Tricks, was wir tun oder lassen sollten. Aus meiner Sicht ist es wichtig, erst einmal zu wissen, was uns gut tut und was nicht – bzw. wer uns gut tut und wer nicht.
Dabei stoße ich immer wieder auf Ratschläge wie:
„Nein sagen ohne Nein zu sagen.“
„Dazu kann ich nicht Ja sagen.“
Denn ein klares Nein ist nicht unhöflich – es ist ehrlich. Und es schützt unsere Zeit, unsere Energie und unsere Grenzen.
Manchmal hilft es, sich nicht sofort festzulegen. Es ist vollkommen legitim, sich Zeit zum Überlegen und Nachdenken zu erbitten. Ein vorschnelles Ja – aus Unsicherheit, Gewohnheit oder dem Wunsch, gemocht zu werden – bringt uns oft in Situationen, die wir eigentlich vermeiden wollten.
Ein Nein zu anderen ist ein Ja zu uns selbst.
Für mich ist folgende Formulierung sogar kraftvoller:
Ein Ja zu anderen ist ein Nein zu mir selbst.
Denn jedes Mal, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse hinten anstellen, um es anderen recht zu machen, zahlen wir einen Preis – oft unbemerkt, aber spürbar.
Grenzen erkennen und wahren
In Konflikten oder schwierigen Gesprächen ist es besonders wichtig, die eigenen Werte im Blick zu behalten und die eigenen Grenzen zu wahren. Das klingt einfacher, als es ist – vor allem, wenn wir es gewohnt sind, uns selbst zurückzustellen.
Viele Menschen opfern sich für andere auf, ohne es bewusst zu merken. Es beginnt leise und schleichend. Immer wieder kommt ein kleines bisschen mehr dazu – eine zusätzliche Aufgabe, ein weiterer Gefallen, ein Gespräch, das eigentlich zu viel ist. Sprichwörtlich wird noch eine Schippe draufgelegt.
Und wer wird nicht gerne dafür gelobt, was er Gutes für andere getan hat? Ich kenne niemanden. Lob tut gut und motiviert zu mehr. Doch genau darin liegt die Gefahr: Wir tun mehr, als uns guttut – und merken es oft erst, wenn es zu spät ist.
So erging es auch einer Mitarbeiterin, die als „die gute Seele des Teams“ galt. Sie war stets freundlich und gewissenhaft, beantwortete Fragen auch dann, wenn sie eigentlich Pause hatte oder kurz vor dem Feierabend stand. Ihre Geduld und ihr Mitgefühl machten sie zur ersten Anlaufstelle für viele. Ihre Hilfsbereitschaft sprach sich herum – und bald war sie so sehr mit dem Unterstützen anderer beschäftigt, dass sie ihre eigene Arbeit nur noch nach Feierabend erledigen konnte.
Es ging sogar so weit, dass sie abends zu Hause von einem Kollegen mit depressiven Schüben angerufen wurde. Die Gespräche dauerten oft über eine Stunde. Und sie sagte: „Ach, ist doch selbstverständlich …“ Doch war es das wirklich?
Was als freundliche Geste begann, wurde zur stillen Verpflichtung. Sie fühlte sich verantwortlich – nicht nur für Aufgaben, sondern für das emotionale Wohlbefinden anderer. Dabei blieb ihr eigenes auf der Strecke. Ihre Freizeit schrumpfte, ihre Erschöpfung wuchs. Und irgendwann stellte sie fest, dass sie kaum noch Zeit für sich selbst hatte. Kein Raum für Ruhe, für eigene Gedanken, für das, was ihr eigentlich guttat.
Mut zum klaren Nein
Alfred Sielau-Pallas bringt es auf den Punkt: „Dazu kann ich leider nicht Ja sagen.“ Und Karin Kuschik ergänzt treffend: „Ein ‚Ich weiß nicht‘ bedeutet immer: Nein.“
Diese Sätze wirken wie kleine Wegweiser. Sie erinnern uns daran, dass Unklarheit oft ein Zeichen dafür ist, dass wir etwas nicht wollen – aber es noch nicht aussprechen können. Ein klares Nein braucht Mut. Aber es ist auch ein Zeichen von Selbstachtung.
Nein sagen heißt nicht, andere im Stich zu lassen. Es heißt, sich selbst ernst zu nehmen. Es heißt, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen – und nicht für das Leben anderer. Es bedeutet, Grenzen zu setzen, bevor man sich selbst verliert.
Vielleicht ist es an der Zeit, das Bild der „guten Seele“ neu zu denken. Nicht als jemand, der sich aufopfert, sondern als jemand, der mitfühlend ist – und gleichzeitig klar. Der hilft, wenn er kann, aber auch weiß, wann es genug ist. Der nicht aus Pflichtgefühl handelt, sondern aus echter Verbindung. Und der sich selbst nicht vergisst.
Denn ein Nein zu anderen ist manchmal das größte Ja zu uns selbst.
siehe auch: „Wie kann ich täglich 20.000 Entscheidungen treffen und mich gut dabei fühlen?“ und „Was ist Motivation?„
Quelle: Afif Kusuma by Unsplash